Die Westliche Zinne

Und dann gibt es diese Träume, die so groß sind, daß man nicht getraut hat, sie zu träumen.

 22. Juli 2022 - zwei Tage nach der Großen Zinne ist stabiles Hochsommerwetter vorausgesagt: „Gehen wir die Westliche Zinne!“ So sein Vorschlag! Wieder stockt mir kurz der Atem.

Wohl kam der Gedanke an alle Drei Zinnen und somit auch die Westliche Zinne hin und wieder ganz zart bei mir vorbeigeschwebt, allerdings wurde dieser von meinem rationalen Hirn auch immer zuverlässig verschoben. Es blieb also immer ein Wunsch, den ich nicht auszusprechen traute. Außerdem  braucht man schon ein reichlich großes Energiepotential, die anspruchsvolle Westliche Zinne noch hinterher zu schieben. Auch muß man bereit sein, das stark erhöhte Aufkommen von Menschen einen weiteren Tag in Kauf zu nehmen. Am schönsten sind doch die Wände, in denen man für mehrere Stunden allein verschwinden darf.

Ich sehe mich nicken: „Gut machen wir!“ Mein zuverlässiger innerer Zweifler in guter Gesellschaft mit der Ängstlichen gucken sich verdutzt an: „Ist sie jetzt völlig übergeschnappt?“ Meine innere Performerin antwortet lächelnd: „Alles im grünen Bereich! Lass uns loslegen, Tour festlegen, Rucksack packen, Frühstück und Kaffee vorbereiten, Startzeiten fixieren.“

Dem kurzen Versuch von Korbi, die Cassin oder die Hasse-Brandler noch einmal in die Auswahldiskussion einzubringen, folgt jedoch ein klares Veto von mir. So gefestigt fühle ich mich doch nicht, daß ich mal eben Querungen und Dächer im alpinen 8. Grad genießen könnte. So fällt unsere Wahl auf die Petri Heil.

Die Petri Heil: 20 Seillängen; 6c; 600 Klettermeter, eine Tour aus dem Jahr 2016, beginnt in der Nordseite und windet sich nach 9 Seillängen die Nordwestkante, die Demuthkante kreuzend, bis zum Gipfel. Die Schlüsselseillängen sind gleich im untere Drittel zu absolvieren, eine 6b-Seillänge gleich zum WarmUp am Start.

Die Frühstückszeit ist heute mit 3:30 Uhr angesetzt. Dieses Mal schlafe ich tatsächlich bis dahin durch! Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Um 4:00 Uhr sitzen wir im Auto, die Abläufe sind inzwischen eingespielt - auch hier.

Der Weg zum Einstieg der Westlichen Zinne - besser links herum oder rechts herum? Vermutlich bleibt es sich nahezu gleich. Den Weg um die Kleine und Große Zinne herum kennen wir bereits sehr gut, haben nur vom letzten Jahr noch eine unangenehme Schotterrinne zwischen den beiden großen Zinnen in Erinnerung. Wir nehmen also diese Variante. Auch heute ist am Fuße der Großen Zinne noch kein Kletterer zu sehen. Wir wundern uns und queren weiter. Die Schuttrinne erwischen wir diese Mal etwas höher, was günstiger ist. Vorsichtig traversieren wir in der Dämmerung an dem Stacheldraht aus dem 1. Weltkrieg vorbei. Kurz wandern meine Gedanken: Ist denen, die da Kriege anzetteln eigentlich bewusst, wie lange die Auswirkungen solcher Machtentscheidungen nachwirken? Wie lange die Wunden in unserer unmittelbaren Lebensumgebung und in dem menschlichen Bewusstsein spürbar sind?

Ich hole mich zurück ins Hier und Jetzt. Kurz verliere ich Korbi aus den Augen, dafür kommt mir eine andere Seilschaft entgegen. Aha, sie sind offensichtlich anders herum gegangen und wollen zur Große Zinne oder Demuthkante.

Korbi ist schon auf dem kleinen Vorbau, ganz links in der Nordseite, unserem Einstieg zur Tour. Wir schauen hoch, Freude kommt auf. Das wird richtig gut, denke ich!

Kurz diskutieren wir noch, ob wir vielleicht in Wechselführung gehen. Es geht hier heute um Zeit, reibungslosen Ablauf, zweifelsfreie zügige Wegfindung. Es ist nicht der Platz für Experimente – 20 Seillängen – Am Ende entscheiden wir uns für die „klassische Rollenverteilung“: Korbi vornweg, ich möglichst zügig hinterher und dafür den vollen Klettergenuß und -fluß. Anspruchsvoll bleibt es trotzdem, ein Fallen in den meisten Stellen ist sowieso ein „NoGo“.

6:00 Uhr steigen wir in die Wand ein, Kaltstart mit 6b. Die ersten Meter sind gleich mal anspruchsvoll und verlangen eine ordentliche Klettertechnik. Aber es läuft – fließt dahin. Dank der guten Absicherung im unteren Teil, den ersten Seillängen, ist der Wegverlauf klar. Die 4. Seillänge, mit 6c die Schlüsselseillänge, zum Jauchzen schöne Henkelkletterei. Leicht überhängend sind diese Grifflöcher einfach wunderschön und gehen im Weiteren in scharfkantige Leisten über. Das gelbe Nordwandgestein zieht sich bis zu einem kleinen Dach hinauf, das rechts umgangen in eine Verschneidung führt.

Wir versinken in einer Art Klettermeditation. Hin und wieder unterbrochen durch ein paar Worte am Stand, genieße ich tatsächlich vollkommen das Hier und Jetzt, bin mit allen Sinnen in dieser Wand und bei der Kletterei. Ich bin eins mit mir. Wobei heute die Schwierigkeit darin besteht, behutsam mit dem Fels umzugehen, keine Steine loszutreten. Der Fels ist heute nicht so fest wie vor zwei Tagen in der Comici.

Ab der 9. Seillänge haben wir einen grandiosen Blick in die Nordwand der Großen Zinne. Dort tummeln sich inzwischen mehrere Seilschaften in der Comici und auch in der Hasse-Brandler. Gigantisch sieht das aus! Und da soll ich selbst vor zwei Tagen hochgestiegen sein? Das erscheint mir aus dieser Perspektive völlig verrückt!

Auf dieser Höhe kreuzt unser Weg die Demuthkante, hier kommt tatsächlich die andere Seilschaft hinauf. Man kommt ins Gespräch: „Ach, ihr macht wohl die Zinnentrilogie?“

„Ähm, nein! Ähm, naja....?“ schwebt es mir durch das Hirn. Wann ist die Zinnentrilogie eigentlich die Zinnentrilogie? Fakt ist, wenn wir heute da oben am Gipfel der Westlichen Zinne ankommen, dann haben wir final auf allen drei Zinnen gestanden. Also doch die Trilogie!

Während mein Kopf noch ein wenig der Frage nachhängt, wann wohl per Definition die Zinnentrilogie, die Zinnentrilogie ist, cruisen wir schon weiter durch das Kalksteinmeer. Wellenartig zieht der Weg jetzt über die Bänder weiter nach oben, kurze Aufschwünge wechseln mit Schotterbändern ab. Ein Stein kommt ins Rollen und landet direkt auf meinem Mittelfingergelenk. Der Schmerz holt mich augenblicklich in die physische Welt zurück. Kann ich den Finger noch bewegen? Ja! Also geht es weiter, der Schmerz wird schon nachlassen. Mit der Aufmerksamkeit bin ich jetzt augenblicklich wieder zu 100% im Gestein.

Die Schwierigkeiten wechseln nun bis oben zwischen 5c, 6a, 6a+, 6b. Die Absicherung wird definitiv alpiner, die Hakenabstände weiter, der Wegverlauf ist nicht immer ganz klar erkennbar.

Aufschwung – Band – Stand, Aufschwung – Band – Stand....es fließt so dahin. 10 bis 19. Seillänge - es fühlt sich alles irgendwie gleich schwer an. 

Inzwischen sind wir vollends aus der schattigen Nord-, Nordwestseite ins Sonnenlicht gelangt. Die Sonne wärmt angenehm meinen Körper. Ich genieße den Flow. In mir drinnen macht sich ein unglaublich beglückendes Gefühl tiefster Dankbarkeit breit.

Es gibt Träume, die so unglaublich groß und umfassend sind, daß ich sie mir selbst nicht erlaubt habe zu träumen. Zwei Tage nach der Großen Zinne nun hier um 11:45 Uhr auf der Westlichen Zinne auszusteigen, das ist’s, was ich nicht wagte zu träumen und nun Wirklichkeit ist.

Ich bin überwältigt, unglaublich still, voller Freude und Dankbarkeit. Kann es wirklich noch besser werden? Im Moment wohl kaum! Im Moment, so scheint es mir, ist dies das Maximum, das sich hier an körperlicher und mentaler Leistungsfähigkeit auf wundervolle Art zusammengefügt hat.

 Ausstieg 19. Seillänge, wir haben es fast geschafft, der Rest ist Gehgelände und so packen wir das Kletterzeug zusammen.

„Haben wir alles mitgenommen?“

...

„Die letzte Seillänge geht so? Das passt für Dich?“

...

„Hallo? Bist Du noch da?“

Ich habe im Moment keine Antworten auf Korbis Fragen. Mein Hirn formuliert: “Keine Ahnung, ich habe tatsächlich nicht geguckt, ob ich wirklich alles im Rucksack verstaut habe auf dem letzten Band....und...hmhmh... wird mal wohl sehen, ob es so geht... wird schon – ist ja Gehgelände“ Akkustisch sind meine Gedanken aber hier nicht mehr wahrzunehmen. In mir ist eine große, leuchtende, friedliche, freundliche Stille, ich steige die letzten Absätze empor und freue mich!

Mittag auf der der Westlichen Zinne. Wir haben den Gipfel tatsächlich für uns allein, genießen den Blick hinüber zur Großen Zinne und in ihre Nordwand hinein. Wir blicken auf die großartige Felslandschaft der Dolomiten. Meine Orientierung wird zwar langsam, aber doch stetig immer besser.

Nach kurzer Zeit kommt auch die Seilschaft aus der Demuthkante auf dem Gipfel an, auch ein Bergführer mit Gast. Korbi ist schon in einer der letzten Seillängen mit ihm ins Gespräch gekommen.

Dann beginnt die Suche nach dem Abstiegsweg. Da wir beide zum ersten Mal auf diesem Gipfel stehen, heißt es jetzt Neuland erkunden. Überall auf dem Gipfel stehen wild verstreut Steinmännchen. Schon hier oben habe ich das Gefühl, diese sind eher Zierde als wirklich Wegweiser.

Zuerst geht es über den zerklüfteten Gipfelaufbau bis ganz an das andere Ende. Kurze Abseilstelle und dann stehen wir vor einem breiten Spalt. Auf der anderen Seite stehen auch Steinmänner. Sollen wir wirklich da rüber springen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Frau, die uns da gerade entgegenkam (der Normalweg ist gleichzeitig Auf- wie Abstiegsweg) hier über diesen Monsterspalt gesprungen ist! Für mich fällt diese Option jedenfalls aus! Bei näherer Betrachtung erweist sich die Kante, an der wir stehen, als nächste Abseilstelle. Aha! Hier sind jetzt auch die orangefarbenen Markierungen zu sehen. So geht es vorerst recht flott von Abseilstelle zu Abseilstelle, wobei ich abgelassen werde und Korbi flink hinterher steigt. Wir kommen zügig voran bis zu einem breiten Band, das uns wieder rundherum um den Gipfel südseitig in Richtung Großer Zinne führt. Die Auronzohütte ist bereits zu sehen. Ein vergessener Karabiner führt zur ersten Verzögerung, die nachfolgende Seilschaft bringt ihn mit, hat aber selbst mit einem unglaublichen Seilfitz zu kämpfen.

Ich schalte um auf: Ruhe bewahren, Abwarten und möglichst aus der Steinflugbahn heraustreten.

Wieder in Gang gekommen, ist’s letztendlich ein Abseilring, der uns vom Weg abbringt. Wir stehen plötzlich im weg- und trittlosen Schottergelände. Um uns herum ist es brüchig und abschüssig. Wir sehen keine Wegspuren, stattdessen hier und da und dort ganz vorn an den Kanten Steinmännchen! Wer baut sie an diesen Stellen und wofür? Mir scheinen sie immer mehr nur Zierde und nicht Wegweiser zu sein und am oben genannten Abseilring fehlte tatsächlich die orange Markierung. Genau da hätten wir wohl dem Band weiter in Richtung Scharte zwischen Westlicher und Großer Zinne folgen müssen. Nun stehen wir ca. 20hm tiefer im Schutt. Die Situation wird ernster. Ich verharre wo ich bin, will jetzt nicht noch ein Problem hinzufügen und erlebe, wie hier zwei Bergführer (die nachfolgende Seilschaft ist inzwischen auch aufgeschlossen und hat den gleichen Fehler gemacht) den rechten Weg suchen.

Zum ersten Mal in diesen Tagen habe ich hier das blöde Gefühl, wir könnten es heute doch nicht pünktlich um 18:30 zur Pizzeria schaffen. Schade eigentlich, ist so lecker dort.

„Schluß! Wir gehen zurück zur letzten Markierung!“

„Hmhm und wo war die letzte Markierung?“

Ich muss schon fast lachen. Na ja, jedenfalls irgendwo ungefähr 20m weiter oben würde ich denken. Also wickeln wir das eine nicht verstaute Halbseil wieder ab und Korbi steigt vorsichtig durch den Bruch wieder hinauf. Inzwischen hat Bergführer Nr.2 in einer echt wilden Schuttbandquerungsaktion tatsächlich auch den richtigen Weg wieder gefunden, so dass auch wir uns jetzt wieder gut orientieren können. Der Rest des Abstieges führt uns an einer alten Kriegsstellung vorbei direkt in den Schartenhochpunkt zwischen den beiden größeren Zinnen. Nun folgt noch der Schotterabstieg bis zum Wandfuß, den wir um 16:00 Uhr erreichen.

Der Abstieg ist im Topo mit 1,5 bis 3 Stunden angegeben. Wir haben heute mal das Maximum ausgereizt. 1,5 Stunde sind es wohl für die, die den Weg kennen, 3 Stunden für die, die ihn suchen.

Krönender Abschluß! Tatsächlich stehen wir pünktlich 18:30 Uhr, frisch geduscht in unserer Lieblingspizzeria in Cortina! Geht es noch besser? Für heute wohl kaum!

Zurück
Zurück

Heiligkreuzkofel

Weiter
Weiter

Die Große Zinne