Die Große Zinne

20. Juli 2022

LEBEN wird nicht gemessen an der Zahl von Atemzügen die wir machen, sondern an den MOMENTEN, die uns den Atem nehmen!
— Maya Angelou

Ich möchte erzählen von den Träumen, den Momenten, die mir den Atem nehmen. Die Träume, die so groß sind, daß sie zu gleichen Teilen für mich möglich wie unmöglich scheinen. Die Ziele, die mich über eine so lange Zeit hinweg motivieren „dran zu bleiben“, die mir bei jedem Training im Kopf vor dem inneren Auge stehen. Diese Vorhaben, deren Umsetzung gleichermaßen verbunden ist mit Wachstum aber auch mit Rückschlägen, Hoffnungen und Zweifeln. Da heißt es, geduldig sein, und manchmal scheint es, dass es nie wahr werden  wird. Doch dann kommt der Tag, da fügen sich alle Puzzleteile zusammen, da passt es dann so gut, daß der Traum Wirklichkeit wird und du vergisst zu Atmen.

„So Agnes, morgen ist Zinnentag!“ Ein „Ach, doch schon so schnell!?“ rutscht es mir spontan heraus. Es ist der erste Abend unseres Ankunftstages in den Dolomiten. Wir sind heute früh um 6:00 Uhr in Berchtesgaden gestartet und haben bereits eine hübsche 6-Seillängenroute am Lagazoui / Falzaregopass im 7. Grad in nicht sauberer, aber vernünftiger Wechselführung genossen. Nun soll es also morgen so weit sein – der Tag!

Der Wecker ist auf 2:45 Uhr gestellt, mit Korbi das Frühstück auf 3:00 Uhr verabredet. Zuverlässig wie immer wache ich kurz vor dem Weckerklingeln auf. Schlüpfe sofort aus dem Bett in meine Sachen, setze den vorbereiteten Kaffee auf den Kocher, bis ich bemerke, daß ich noch ganze vier Stunden schlafen darf – die Uhr springt auf 23:00. Stündlich bin ich wach und blicke auf die Uhr, natürlich auch direkt bevor der Wecker wirklich klingelt. Da nun der Kaffee (den ich noch einmal aufwärme) und auch das Frühstück vorbereitet waren, sitzen wir tatsächlich um 3:30 Uhr im Auto.

Die Rucksäcke hatten wir am Abend sorgfältig gepackt. Auch für Plan B, C und D, falls wie im letzten Jahr am Einstieg zur Comici eine Menschenansammlung anzutreffen ist.

Was war eigentlich Plan B, C und D?

War Plan B tatsächlich die Hasse-Brandler? Auf jeden Fall habe ich hier bereits auch schon das Topo für die „Petri Heil“ auf die Westliche Zinne im Rucksack.

Wir fahren die vielen Kurven durch die Nacht. Die Anspannung ist deutlich spürbar, aber auch eine gewisse überzeugte Sicherheit, woher auch immer diese kommen mag, daß unser Plan heute aufgehen wird.

2016 stand ich zum ersten Mal am Fuße der Zinnen. Damals mit Kletterpartnern, die über die Dibonakante auf die Große Zinne steigen wollten. Für mich hat es sich 2016 nicht richtig angefühlt, die Wettervorhersagen waren unbeständig, die Partner für mich nicht ganz ideal, ich war noch nicht bereit. Ich bin an diesem Tag, tief beeindruckt von der Landschaft und den Felsformationen, einmal um den Paternkofel und die Zinnen herum gelaufen. In mir drinnen fing dabei ein Traum, ganz zart wie ein Samen, an zu Wachsen: Ich möchte einmal auf die große Zinne hinauf klettern, oben stehen und die Welt drumherum von dort oben betrachten!

Mit diesem Wunsch bin ich kurze Zeit später zu Korbi gegangen: „Klar, kann ich mit Dir auf die große Zinne klettern!“ So seine zuversichtliche Antwort damals.

Ich weiß nicht mehr genau, wann mir klar wurde, daß er mit diesem Satz natürlich davon ausging, daß wir durch die Nordwand / Comici auf die Große Zinne steigen. Ich weiß nur, daß ich innerlich zusammen zuckte und mir dachte: „Nun denn Agnes, dann mal los! Auf geht’s, rein ins Training und die mentale Arbeit!“ Der 7. UIAA Grad war damals nur hin und wieder für mich kletterbar und wenn, dann auch nur mit straffem Seil von oben! Von meiner mentalen Instabilität mal ganz zu schweigen.

2018 ... 2019... verstrichen aus verschiedenen Gründen, ohne das ich meinem Traum greifbar näher kam. 2020 war ich mit Sophie eine Woche in den Dolomiten. Wir tobten uns aus an den Cinque Torri und der Schleierkante. In der Woche darauf verhinderten aufziehende tägliche Gewitterneigungen den Zinnenplan. Wir wichen damals in den Wilden Kaiser aus. Auch sehr schön, aber eben nicht der große Dolomitentraum. ;-)

Letztes Jahr dann endlich der deutliche Durchbruch bei mir. Ich hatte die Corona-LockDown-Zeit für mich genutzt, an meiner HomeWall traniert und im Frühjahr 2021 meine erste 8- am Barmstein in Berchtesgaden geklettert, im Sommer in Franken meinen ersten UIAA-8er. Ich war im 8. Grad angekommen und leistungsmäßig bereit für die Nordwand der großen Zinne.

Am 12. August 2021 stand ich tatsächlich früh um 6:30 Uhr zum ersten Mal in meinem Leben unter der gewaltigen Nordwand am Fuße der Großen Zinne. Aber am Einstieg der Comici standen schon 8 (!) Personen / 4 Seilschaften. Mehrere beschwerliche Schottermeter weiter an der Westlichen Zinne / Cassin ein ähnliches Bild und die Feststellung: „Nein! So will ich, so wollen wir es nicht!“ Wir wollen nicht mit vielen anderen Menschen in dieser großen Wand im Stau stehen, an geschlagenen Standplätzen hängen oder Steine, ausgelöst von vorangehenden Seilschaften, auf den Kopf bekommen.

Am Ende dieses Tages stand ich letztendlich auf dem Gipfel der Kleinen Zinne, bestiegen über die Innerkofler Nordwand. Immerhin, dort oben hatte ich das Gefühl des Glücks und wirkliche innere Zufriedenheit.

Mehrere Tage später zu Hause kam dann ein wenig die Enttäuschung. Ist das nun das Ende meines großen Traumes? Soll ich ihn ziehen lassen? Muss man vielleicht auch manchmal Träume unerfüllt beiseite legen und weiter gehen? Inzwischen nahm diese Wand, dieser Berg so einen großen Teil meines Hirns ein. Bei jedem Training, bei jedem Lauf stand sie vor meinem geistigen Auge. Ich weiß, wofür ich all das tat. Ich trainierte auf diese Nordwand hin. Aber so langsam schien sie mich auch zu blockieren, war nicht mehr nur Motivation, sondern verdeckte auch den Blick für die anderen großartigen Erlebnisse, über die ich mich 150% freuen wollte, aber irgendwie nicht konnte. Ich bemerkte das und dachte, dass es besser ist, Träume auch ziehen zu lassen. Tränen flossen nach dem Dolomitensommer 2021. In mir drinnen ein Gewirr von Gefühlen, die ich nur schwer sortiert bekam.

Mein allerliebster Mann Jörg ist letztendlich derjenige, der den richtungsweisenden Satz sprach: „Die Große Zinne wird schon nicht so schnell wegerodieren! Manchmal muss man eben noch etwas Geduld haben!“

Es ist der 20. Jui 2022, 4:45 Uhr stehen wir erneut am Einstieg der Comici. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen oder zu hören. Jetzt ist klar: Hier und heute geht es um unseren Plan A, wir steigen heute in die Comici, die Nordwand der Großen Zinne ein! Was wird uns erwarten?

17 Seillängen, 450m steile Kletterei bis zum Ringband, 550m bis zum Gipfel – ein Klassiker par excellence. 3 Seillängen im 7. UIAA-Grad, durch die vielen Begehungen mitunter auf Hochglanz poliert. Die Begehungszeit ist mit 6 bis 8 Stunden angegeben, die Absicherung und die Stände klassische Schlaghaken. Über das „eindrucksvolle Finale“, den „aufgeregt ausgesetzten 27m-Quergang“ habe ich schon allerhand Gruselgeschichten gehört.

„Hmhm, ein bisschen zu früh .... müssen noch ein wenig warten ... bei der Dunkelheit sehen wir ja nichts.“ sagt’s und lächelt. Ich lächele auch und verschwinde noch einmal ums Eck. Meine Verdauung wollte um 3:30 Uhr im Quartier noch nicht verstehen, was jetzt hier notwendig wäre.

Wir sortieren das Material und steigen um 5:15 Uhr in die Wand ein.

Quasi gleichzeitig, und das kann ich auch nicht verhindern, indem ich mir keine Zeit zum Schuhwechsel nehme und die erste Seillänge ganz fix in Laufschuhen bewältige, steigt ein Sextener Bergführer mit mir in die Comici ein. Auf dem Vorbau der ersten Seillänge rotzt er mal eben einen Blockstand hin und steigt direkt hinter Korbi die zweite Seillänge mit hinauf. Neben mir sein Gast aus der Schweiz, beide sehr munter, gesprächig und mitteilungsbedürftig. Die Ruhe ist dahin, dafür steigt in mir der Streßpegel sprunghaft an. Während ich schon durch die zweite Seillänge cruise - Vierergelände - dicht gefolgt vom schweizer Gast, bitte ich innerlich inständig darum, daß Korbi hier die Seilschaftsreihenfolge zügig sauber klärt. Am Ende lässt er den Sextener Bergführer vorbei ziehen. Nach weiteren 2 bis 3 Seillängen ist von ihnen kaum noch etwas zu sehen, aber vor allem nichts mehr zu hören. Es kehrt wieder Ruhe ein.

Gleich die dritte Seillänge startet mit einer kleingriffigen glatt polierten 7er-Querung, die ich tatsächlich souverän elegant, u.a. mit einem schicken Kreuzzug, bewältigen kann. Wir freuen uns über den gelungenen Start. Jetzt geht es hinauf in diese große gelbe Wandflucht, immer steil hinauf bleibt es anhaltend pumpig, aber unglaublich schön! Ich gebe mich dem Ablauf - Wechsel von Klettern - Stand - Sichern - nächste Seillänge... hin. Wir sind ein eingespieltes Team, da braucht es nicht viele Worte, ich genieße! Korbi geht vornweg, ich flitze hinterher – wir sind im Flow.

Kurz habe ich noch Kontakt zu einer nachfolgenden Seilschaft. Es sind zwei junge Männer in Wechselführung. Einem von beiden helfe ich beim Standplatzbau neben mir, woraufhin er entschuldigend sagt: „Sorry, this is my first Multipitch!“ Wie bitte? Ernsthaft? Die erste Mehrseillänge gleich in der Comici? Kurz überlege ich ob ich hier im falschen Film bin, aber auch von den beiden sollen wir an diesem Tag nichts mehr sehen.

Es ist 8:45 Uhr, wir stehen am sogenannten Italienerbiwak. „Das ist für alle anderen gerade mal Frühstückszeit!“ geht es mir spontan durch den Kopf. Für uns liegen da die ersten 9, und damit schwersten, Seillängen hinter uns. Jetzt wird es von den numerischen Schwierigkeiten leichter, nicht mehr anhaltender oberer 6er oder 7er Grad, dafür wird es alpin vielseitiger und deutlich luftig.

Über die nächsten 6 Seillängen zieht sich die Tour eine meist nasse Verschneidung hinauf, die aber hier heute komplett trocken und einfach nur eine reine Kletterfreude ist. Vorsicht ist dennoch geboten, unter meinem Fuß bricht völlig unerwartet ein Klotz weg. Ich mache mir Sorgen, denn unter uns in der Wand ist doch inzwischen einiges los. Auch die Hasse-Brandler wird begangen.

Wie das klingt, wenn Steine von ganz oben die Wand entlang in die Tiefe rauschen, habe ich in den ersten zwei Seillängen erfahren dürfen. Ich konnte diese brummenden unheimlichen Geräusche nicht zuordnen, bis Korbi mich aufklärte. Also geht es vorsichtig achtsam weiter bis in eine große höhlenartige Verschneidung, ein Kamin.

Wir hängen an dem Stand vor dem vielbesagtem „27m-Quergang“. Ich blicke gespannt in die Richtung, wo es weiter gehen soll und mein Herz macht wider Erwarten einige lustige fröhliche Jubelhüpfer. Wie cool sieht denn bitte diese Querung aus!? Ja! Das ist natürlich kletterbar! Ohne Zweifel! Eine andere leise Stimme in mir, ich kenne sie aus einer scheinbar vergangenen Zeit, wo sie noch groß und laut war spricht: „Nunja, werd mal nicht übermütig – ist eine QUERUNG mit viel Luft darunter und der erste Haken – der ist schon ein Stück weg!“ Ich nehme wahr, betrachte objektiv die Querung und bin mir sicher: Das passt! Meine gefühlt letzte große Hürde – hier ist sie und ich kann lächeln! Wie unglaublich schön ist das denn bitte!

Korbi startet, legt tatsächlich – nur für mich – eine zusätzliche Zwischensicherung. Hätte ich ihm sagen sollen, daß es das nicht braucht? Bis ich fertig bin mit Denken, ist er schon drüben auf der anderen Seite und ich darf starten. Es ist ein beeindruckendes Bild, was hier entsteht, für mich hat es so viel mehr Inhalt, als sich mit Worten beschreiben lässt.

„Jetzt noch zwei 4er Seillängen, dann haben wir es. Dann sind wir am Ringband.“ Sagt’s, lächelt und verschwindet nach oben.

Ich schaue zurück auf diesen Quergang, gleichsam auf den Weg, den ich bis zu diesem Moment gegangen bin. Die vielen Jahre, Monate, Wochen, Momente des Träumens ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Die Zweifel, Verzweifelungen, diese Skepsis, dieses Bangen vor dem Ungewissen, alles das kommt in diesem Moment hoch und damit die Tränen.

Es sind Tränen der Rührung, ich bin überwältigt und höre mich sagen: „Agnes, merke Dir diesen Moment gut! Präge es Dir ein! DAS hast DU geschafft! So unmöglich wie es schien, so möglich ist’s! Alles ist möglich, wenn Du es willst! Du kannst das!“ Ein Welle der Emotionen rollt über mich weg, ich kann es nicht verhindern, nur wahrnehmen. Allerdings ist das hier weder der richtige Zeitpunkt, noch der richtige Ort, um sich längeren Reflektionen hinzugeben. Kaum gedacht, geht es auch schon weiter. Ich hole mich zurück und schalte in den Klettermodus um.

11:45 Uhr steigen auf wir dem Ringband aus. Die Comici ist Geschichte! Ich kann es kaum fassen. Es ist unwirklich! „Die Tour haben wir schon einmal!“ strahlt mich Korbi an, „Der Gipfel kommt noch!“

Wir sitzen auf dem Ringband, verstauen das Kletterzeug im Rucksack, machen kurz Pause. Mit voller Konzentration geht es wenig später das Ringband entlang, die letzten 100 Höhenmeter zum Gipfel hinauf.

Um 12:30 Uhr am 20. Juli 2022 stehe ich tatsächlich zum ersten Mal auf der Großen Zinne! „Lebenstraum erfüllt!“ So sein Satz. Und was für ein Traum! Ich blicke über die anderen Türme und Felsen hinweg. Das ist die Perspektive nach der ich gesucht habe. Es ist unglaublich! Unwirklich! Ich kann es irgendwie nicht fassen und es ist soooo schön, allumfassend schön!

Ich nehme mir Zeit, darf mir Zeit nehmen, meine inneren, langsam nach oben rollenden Emotionen wahrzunehmen, zu fühlen, zu sortieren.

Da zieht auch noch einmal der Herbst des Jahres 2020 an mir vorüber. Damals dachte ich: „Das schaffe ich doch nie! Dieses mentale Problem so in den Griff zu bekommen, daß ich solche Touren wirklich angstfrei genießen kann.“

Am Anfang diesen Jahres lief mir folgende These über den Weg: Es geht darum, wie Du Dich fühlen willst wenn Du Dein Ziel erreicht hast.

Hier oben auf dem Gipfel scheine ich plötzlich zu verstehen. Ja, genau so will ich mich fühlen beim Erreichen meiner Ziele. Ich habe diese Tour vom ersten bis zum letzten Moment genossen. Ich war genau jederzeit im Hier und Jetzt. Nicht einen einzigen Augenblick kam dieses jahrelang so vertraute Gefühl der Angst in mir hoch. Nein, es war wirklich der reine Klettergenuß, das Fließen der Bewegungen. Ich erkenne und fühle nur noch Dankbarkeit in mir. Hier oben verstehe ich, daß es gut war, diesen Reifeprozeß bis heute auszuhalten und zu gehen. Genauso sollte es sein! Genauso ist’s gekommen. Danke!

Den Abstieg bewältigen wir erst über den Normalweg, bis zu einem breiten Band, dem wir in Richtung Westliche Zinne folgen. Dann noch zwei Abseilstrecken in die Scharte zwischen Großer und Westlicher Zinne und um 15:00 Uhr sind wir zurück an der Auronzohütte.

What a Day!

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Freier als Paul Preuß